Drapetomanie: Wenn schwarze Sklaven partout davonlaufen wollen
Verblichene Leiden Folge 8
Psychologie heute Sept. 07
Irrsinn der Freiheit
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auf den Plantagen der amerikanischen Südstaaten unter den schwarzen Sklaven eine unerklärliche neue Form von Geisteskrankheit beobachtet: die “Drapetomanie”.
Der Arzt Samuel A. Cartwright von der Louisiana Medical Association führte das Kunstwort – zusammengesetzt aus den altgriechischen Begriffen drapetes (Ausreißer) und mania (Verrücktheit) – in einem Artikel für das angesehene New Orleans Medical and Surgical Journal ein. In seinem “Report über die Krankheiten und physischen Eigenheiten der Negerrasse”, der am 7. Mai 1851 veröffentlicht wurde, beschreibt Cartwright eine neue Form der Psychose, “die unseren medizinischen Autoritäten unbekannt, unseren Pflanzern und Aufsehern dagegen wohlvertraut ist”. Diese Geisteskrankheit einiger schwarzer Arbeitssklaven äußere sich in einem eigentümlichen Verhalten, nämlich dem “unkontrollierbaren Drang, davonzulaufen”.
Dass es sich bei solchem Freiheitsdrang um ein höchst unnatürliches und folglich krankhaftes seelisches Geschehen handelt, liegt für den Südstaatenarzt auf der Hand. Schließlich sei der Neger aufgrund der Beschaffenheit seines Blutes zu harter körperlicher Arbeit unterfreiem Himmel bestimmt – selbstverständlich unter sachkundiger weißer Aufsicht. Verweigere er diese Arbeit, so leide er Mangel und schade sich folglich selbst. Die Ursache des naturwidrigen Weglaufens aus der Sklaverei müsse also offenkundig in einer Erkrankung des Geistes zu suchen sein.
Glücklicherweise, so versichert Cartwright seinen Lesern, sei dieses Leiden unter “angemessener, strikt zu befolgender medizinischer Anleitung” kurierbar. Als effektivste unter den therapeutischen Maßnahmen empfiehlt der Doktor sachkundig ausgeführtes Auspeitschen. In hartnäckigen Fällen könne auch die Amputation von Zehen verordnet werden – mit einem verstümmelten Fuß flüchtet es sich schließlich nicht so gut.
Soweit zur Drapetomanie. In demselben Aufsatz macht Samuel Cartwright die Fachkollegen dann gleich noch auf eine zweite seelische Störung aufmerksam, die unter schwarzen Sklaven überaus verbreitet sei, nämlich die “Dysaethesia Aethiopica”. Darunterverstehterden offenkundigen Mangel an moralischen Grundsätzen, wie er bei nicht wenigen Angehörigen der “Negerrasse” anzutreffen sei. Dieses ethische Defizitäußere sich in Erscheinungen wie Ungehorsam, Aufsässigkeit, Arbeitsverweigerung sowie einer Missachtung von fremdem Eigentum. Typisch sei auch, dass die Erkrankten “alles, was sie benutzen, zerbrechen, vergeuden und kaputtmachen, Pferde und Vieh misshandeln, ihre Kleidung zerlöchern, ankokeln und zerreißen”.
Gut 14 Jahre nach der Veröffentlichung dieser pseudomedizinischen Abhandlung wurde in den USA am 18. Dezember 1865 die Sklaverei per Verfassungszusatz verboten. Dem Missbrauch von Wissenschaft zu rassistischer Propaganda war damit aber noch lange kein Ende gesetzt.