WEIBLICHE PÄDAGOGIK
Kleine Männer wollen laut sein,
raufen, sich beweisen und trotzdem geliebt werden. Doch dafür ist in der pädagogisch korrekten Frauenwelt von heute kaum noch Platz. Jungs werden mehr und mehr mit weiblichem Verständnis in Watte gepackt, harmonisiert und verweichlicht. Warum eigentlich?
Die Welt ist für Jungen zu eng geworden. Viel zu normiert. Und langweilig. Was ihnen Spaß macht, ist meistens verboten. Was sie besonders gut können, wird nirgends verlangt – im Kindergarten nicht und in der Schule auch nicht. In der pädagogischen Welt hat sich scheinbar alles verschworen, ihnen ihre “männlichen” Eigenschaften abzugewöhnen. Jungen werden unruhig dabei, fahrig und eine immer größere Zahl sogar seelisch krank, hyperaktiv oder depressiv.
Johannes beispielsweise. Er ist drei Jahre alt und seelisch eigentlich ganz einfach gestrickt. Er hat zwei große Wünsche: Behütet sein, am liebsten bei Mama. Und die Welt zu erobern, zu bauen und Dinge wieder kaputt zu machen, am liebsten mit seinen Freunden. Bei solchen Spielen hat er auch immer seinen großen Papa im Kopf.
Der Wunsch, ein kleiner Held zu sein
Wenn der kleine Johannes seinen Kindergarten betritt, dann müsste eigentlich, so denkt er, die ganze Welt erzittern vor Freude darüber, dass er da ist. Und wenn es nicht die ganze Welt ist, so doch wenigstens der Gruppenraum in seinem Kindergarten. Eigentlich müsste das ein Riesenwirbel sein, wenn er kommt.
Aber in vielen Kindergärten ist es nicht so. Ihn erwartet nur ein fast gleichgültiges “Hi”, und Mama flüstert ihm noch eifrig zu, dass heute wieder dies oder jenes gelernt werde. Englisch zum Beispiel, spielerisch natürlich, aber er solle sich trotzdem anstrengen. “Buchstaben malen”, sagt sie, “macht auch viel Spaß, und der kleine Daniel ist schon beim U, du bist erst bei D, dabei ist Daniel doch drei Monate jünger und viel kleiner.”
Johannes möchte, dass Mama stolz auf ihn ist. Er möchte aber wie ein kleiner Held seine Kindergartenwelt erobern und nicht lieb und ordentlich Buchstaben aufs Papier zeichnen. Überhaupt hat Johannes das Gefühl, dass er gar nicht richtig zur Kenntnis genommen wird. Er muss sich jetzt erst einmal kräftig durchsetzen. Das tut er auch. Er stellt sich mitten in den Gruppenraum und schreit laut: etwas, was er in den Trickfilmen gehört hat, die er schon kennt, oder seinen eigenen Namen, damit die Welt endlich erschüttert ist über seine kleine Existenz. Für ein paar Momente hat er das Gefühl, dass er jetzt endlich anständig gewürdigt worden ist. Und dieser Urlaut, ganz tief aus der Brust, klingt jedenfalls schon einmal gewaltig. Johannes fühlt sich für wenige Augenblicke sehr stark. Fast so stark wie Papa (und was der alles kann, unglaublich, das Lego-Flugzeug gestern Abend zum Beispiel).
Fußballspielen wäre schon mal was
Aber dieses gute Gefühl hält nicht an, da nähert sich schon eine liebe weibliche Erzieherin, legt ihm ganz weich die Hand auf die Schulter und sagt: “Du, Johannes, wir hatten uns doch geeinigt, dass wir heute einmal ganz ruhig sein wollen.” Am liebsten würde Johannes sofort wegrennen, über alle Tische und Bänke hinweg, hinaus in den Hof. Oder wenigstens raus aus der gemäßigten Stille im Gruppenraum, wo schon wieder gebastelt und gemalt wird, meist Buchstaben. Weiter als bis zum D kommt er ohnehin nie, er weiß das ganz genau. Fußballspielen, das wäre schon einmal was. Mit zwei oder drei kleinen Kumpeln rennt auf den Hof.
Die Erzieherinnen schauen leicht hilflos hinterher und lächeln sich an. Sie kommen eben nie zur Ruhe, diese Jungs. Immer Lärm, immer Krach. Und nicht einmal ein bisschen Konzentration und Kreativität. Wahrscheinlich haben sie wieder alle viel zu viel ferngesehen. Sie nicken sich zu und glauben Bescheid zu wissen.
Draußen kracht eine Fensterscheibe. Jetzt ist sie kaputt. Das kann bei einem Fußballspiel auf einem viel zu kleinen, beengten Hof schon einmal vorkommen, die Welt geht davon auch nicht unter, denken Johannes und seine Kumpel – und dreschen den Ball gleich noch einmal gegen dieselbe Hauswand. Sie fühlen sich kräftig und mutig. Mit einem ordentlichen Fußballspielen können kleine Jungen nämlich nicht nur die viel gepriesene “soziale Kompetenz” erwerben, sondern auch ihre Ängste bezwingen, die jeden Morgen beim Abschied von der Mutter noch da sind.
Aber die Erzieherinnen sehen das ganz anders: “Kaputte Gegenstände, überhaupt dieser unsensible Umgang mit der feinen Eigenart der Dinge – das ist typisch Junge”, seufzen sie und rufen den Morgenkreis zusammen. Hier werden noch einmal Prinzipien festgehalten: keine Gewalt, auch nicht gegen Sachen, keine kaputten Fensterscheiben und nicht immer dieses Geschrei. Dem kleinen Johannes kommt es vor, als sei seine Welt wie vernagelt. Überall Verbote und Ermahnungen, meist ganz sanft und weich.
Früher hatte der Kindergarten einen Hausmeister, der schrie, wenn etwas kaputt ging. Kindern wie Johannes hat das besser gefallen, obwohl sie natürlich auch vor der lauten Männerstimme Angst hatten.
Irgendwas zwischen Rangeln und Hauen
Jetzt müssen sie keine Angst haben, sie sind wie in Watte gepackt mit lauter weichem weiblichen Verständnis, freundlichen Anleitungen, die alle auf dasselbe hinauslaufen: Kreativität und soziale Kompetenz. Wenn ein Kind einen Panzer mit in den Kindergarten bringt, hören sie von der Erzieherin, dass Gewalt keine Lösung sei.
Das Gleiche sagen Erzieherinnen, wenn die Kleinen ihre Kämpfe austragen, irgendwas zwischen Rangeln und Hauen. Einmal ist es ernst, ein andermal wieder nicht. Aber die Erzieherinnen können das nicht auseinanderhalten. Für sie ist alles Gewalt.
Johannes und seine Freunde müssen untereinander ausmachen, wer der Stärkste ist, wer das Sagen hat. Aber das sollen inzwischen nicht mehr ihre Raufereien bestimmen, sondern die Erzieherinnen. “Morgen bist du der Bestimmer”, sagen sie beschwichtigend zu dem kleinen Johannes, “heute ein anderer.”
Der Bestimmer sein
Johannes mag das nicht. Dem anderen würde er es gern einmal richtig zeigen, dann wäre es vorbei mit der Bestimmerei. Vertragen kann man sich ja trotzdem wieder. Überhaupt könnte man, meint Johannes, von einer Stunde zur anderen entscheiden, wer der Bestimmer ist.
Zwischendurch müsse man sich nur einmal raufen, kriegt eine kleine Faust an den Kopf, weint. Aber dann wüsste man, dass man heute kein Bestimmer mehr werden kann. Morgen ist ein neuer Tag. Aber so ist das alles nicht, für Johannes nicht und für seine Freunde auch nicht. Sie sitzen im Kreis und summen ein Lied und schneiden dabei Buchstaben aus, ganz vorsichtig, mit Kinderscheren. Nachher gehen sie noch in den nahen Park, aber geordnet, am liebsten wäre es den Erzieherinnen, sie hielten sich alle an den Händen, in Zweierreihen. Die Mädchen machen das doch auch, warum ihr nicht?
Johannes darf die männlichen Anteile seiner Psyche und seines Körpers nicht ausleben. Er lernt sie gar nicht richtig kennen. Er fühlt sich eingeengt und gelangweilt. Daraus wird oft Angst. Keine richtige Angst, sondern so eine maulige Ängstlichkeit. Dann will er überhaupt nicht mehr mitmachen, bei gar nichts. Und hinterher wird Mama wieder sagen: “Du bist ja immer noch beim D, Daniel zeichnet jetzt schon das V, hast du gesehen?” Mama weiß nicht, dass Daniel und sein V Johannes gleichgültig sind. Mama lebt auch in einer anderen Welt. Johannes weiß auch nicht ganz genau, was ihn manchmal so bedrückt. Dann würde er am liebsten um sich schlagen. Aber das darf er ja nicht.
Weibliche pädagogische Welt
Johannes ist wie alle dreijährigen Jungen gespannt auf die Welt, aber diese weibliche pädagogische Welt versteht den kleinen Johannes nicht, und deshalb versteht Johannes sich selber auch immer weniger.
Wenn ich selbst als Zehnjähriger wieder einmal mit einer Fünf in Mathematik nach Hause kam, dann schleuderte ich die Schultasche in die Ecke und verschwand mit meinen Freunden im Wald. Dort gab es eine uralte zugewachsene Steinkuhle, in der wir unsere traditionsreichen Feinde trafen. In wilden territorialen Kämpfen sind wir aufeinander losgegangen, mit Stöcken und selbst geschnitzten Schwertern, und haben aufeinander eingedroschen, dass moderne Kinderärzte kopfschüttelnd “vielleicht doch eine ADS” gemurmelt hätten.
Auf dem Sportplatz mitten im Wald holte ich wie mein großes Vorbild Hans Tilkowski, damals Nationaltorwart, den Ball aus der Ecke. Meine Tagträume, meine Fantasien und mein Gefühl für alles, was Körper und Psyche vermögen, lernte ich dort, ohne den ermahnenden kontrollierenden Blick von Erwachsenen. Abends, wenn wir hungrig und satt von Abenteuern ins Dorf zurückliefen, fiel mir auch meine Fünf in Mathe wieder ein. Aber inzwischen hatte ich so viel erlebt und so viele andere, klare und bestätigende Gefühle und Schrammen in Körper und Seele angesammelt, dass mir die Fünf zwar immer noch Angst machte, aber doch nicht nur Angst. Die Fünf war ein Teil meines Lebens, aber nicht der wichtigste. Bei Weitem nicht.
Nicht laut sein, nicht raufen
Das ist alles anders geworden. Zum einen sind die kleinen Jungen wie eingezwängt in die Harmonieseligkeit, die pädagogisch korrekt, vermeintlich motivierend daherkommt, aber Leistung fast noch höher bewertet, als nicht laut zu sein, nicht zu raufen, keine Fensterscheiben einzuschlagen.
Dazu kommt das Vergleichen. Die Mütter haben besorgte Gesichter, überlegen, ob das andere Kind weiter sein könnte als das eigene. Die Erzieherinnen möchten auch, dass ihre Gruppe im Vergleich zu den anderen nicht schlechter abschneidet. Das ist ein doppelter Zwang: einer von außen und einer von innen. Die kleinen Jungen strengen sich enorm an. Sie raufen nicht oder nur, wenn keiner hinguckt (aber irgendeine pädagogische Fachkraft schaut immer?…), und sie erarbeiten sich spielerisch und kreativ das Abc. Nur ihr Gefühl, dass die Welt eigentlich erbeben müsste, vor Freude darüber, dass sie da sind, das will sich nicht richtig einstellen.
Weibliche Pädagogik und Leistungsdenken, das ist eine schwer erträgliche Mischung für Jungen. Dass sie verwöhnt sind, macht es nicht besser. Die Mutter will alles richtig machen, möglichst in Absprache mit den Erzieherinnen, später den Grundschullehrerinnen. Zu Hause sind Mutter und Sohn auch ununterbrochen zusammen.
Kein Muttersöhnchen sein
Jungen möchte natürlich auch Muttersöhnchen sein. Aber eben nicht nur. Manchmal möchte er das ganze verständnisvolle Liebhaben auch einmal wegschubsen. Dann ist Mama traurig. Da ist der Kleine schon wieder seelisch in der Klemme. Er will nicht, dass Mama traurig ist, aber er will auch schubsen und stoßen, schlagen und raufen. Und mit seinen Händen etwas bauen. Ein Vogelhäuschen zum Beispiel, wie die drei Jungen aus der ersten Klasse in der Grundschule.
Die Lehrerin hatte einen Tischler dazu eingeladen, er war alt, hatte freundliche Augen und eine brummige Stimme. Eigentlich gab er ununterbrochen Befehle wie “Der Nagel gehört hierhin, du musst aufpassen, Junge”. Die Lehrerinnen schüttelten heimlich den Kopf, aber die drei Jungen schwitzten vor Eifer und waren stolz. Kleine und größere Jungen sind Handmenschen. Sie wollen die Dinge fühlen, kneten und biegen, sie wollen aus ihnen etwas entstehen lassen. Sie wollen, grob gesagt, die Welt fortwährend verändern und sich nicht dauernd still anpassen. Das Vogelhäuschen war für die drei Jungen ein seltener Höhepunkt ihrer Grundschulzeit. Eigentlich der einzige. Danach gab es nur Zuhören, Lesen und Rechnen.
Die Jungen wurden immer unruhiger, manche waren nicht so schüchtern und ängstlich wie andere, die gingen dann über Tische und Bänke, schmissen einen Stuhl um, rissen mitten im Unterricht ein Fenster auf und ließen es wieder zuschlagen. “Die Jungen sind ein Problem”, sagen die Lehrerinnen. Die ganze pädagogische Öffentlichkeit scheint sich darüber einig zu sein. Dabei sind die Jungen nur Jungen und dürfen es nicht sein. Das ist alles.
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und Familientherapeut. Er verfasst Bücher wie “Warum unsere Kinder ein Glück sind. So gelingt Erziehung heute” (Beltz) oder “Ich bin der Größte und ganz allein. Der neue Narzissmus unserer Kinder”
(Patmos). Quelle Jungs von heute – verweichlicht und verweiblicht